Themenbausteine zur Reflexion von Unterricht
Die vorliegenden Bausteine zur Reflexion von Unterricht dienen als Ausgangspunkt zur Sensibilisierung für Unterrichtsprozesse in der Beratung im Rahmen der Ausbildung aber auch zu internen Fachdiskursen und Weiterentwicklungen unter den AusbilderInnen. Darüber hinaus kann es eine strukturierende Grundlage für LehramtsanwärterInnen, MentorInnen, Lehrgangsteilnehmende und Ausbildende bei der alltäglichen Unterrichtsvorbereitung, bei der Unterrichtsreflexion wie auch in Prüfungskontexten sein. Das Papier unterliegt immer wieder neu der Überarbeitung und fördert damit den Diskurs über Fragen nach gutem Unterricht und darüber hinaus.
Begleitpapier zur Frage guten Unterrichts
Die vorliegenden Bausteine zur Reflexion von Unterricht dienen als Ausgangspunkt zur Sensibilisierung für Unterrichtsprozesse in der Beratung im Rahmen der Ausbildung aber auch zu internen Fachdiskursen und Weiterentwicklungen unter den AusbilderInnen. Darüber hinaus kann es eine strukturierende Grundlage für LehramtsanwärterInnen, MentorInnen, Lehrgangsteilnehmende und Ausbildende bei der alltäglichen Unterrichtsvorbereitung, bei der Unterrichtsreflexion wie auch in Prüfungskontexten sein. Das Papier unterliegt immer wieder neu der Überarbeitung und fördert damit den Diskurs über Fragen nach gutem Unterricht und darüber hinaus.
Chancen und Grenzen kategorialer Bestimmungen von „gutem Unterricht“
Einerseits vermögen derlei Bausteine den Blick auf bestimmte Teilbereiche zu fokussieren und so für bedeutsame Aspekte
„guten Unterrichts“ zu sensibilisieren. Kriterien „guten Unterrichts“ können vorher gemeinsam durchdacht,
diskutiert und transparent gemacht werden. Sie sind nicht zuletzt ein kommunikatives Mittel für Entwicklungsprozesse. Auch
eröffnet sich die Möglichkeit, Beobachtungsschwerpunkte im Beratungsprozess vorab gemeinsam festzulegen, und sich
anschließend gezielt darauf zu beziehen. Dies kann es leichter machen, Beobachtung und Bewertung voneinander zu trennen (vgl.
Köller et al. 2024 S.12). Andererseits aber ist die Gewichtung der verschiedenen Kategorien spätestens in Bewertungskontexten in
der Regel ungeklärt und insofern letztlich weniger transparent als es den Anschein haben mag. Die Gewichtung verschiedener Kategorien
erfolgt zudem nicht jenseits situativer Begebenheiten und gemeinsamer Verständigungs- und Aushandlungsprozesse im Beratungs- und
Bewertungskontext. Vor allem aber erzeugen Kategorien potentiell den Effekt, dass allzu schnell die Überzeugung gewonnen wird, das
Wesentliche im Blick zu haben, wohingegen entscheidende Aspekte auch jenseits vorher festgelegter Fokussierungen zu finden sein können
bzw. gesucht werden müssen. Man denke dabei beispielsweise an im Lebensverlauf erworbene Überzeugungen und Rollenbilder,
handlungsleitende subjektive Theorien oder auch innere Abwehrprozesseund Ängste, die zunächst zwar in der Momentaufnahme einer
singulären Unterrichtsstunde schwer anhand von Kriterien zu beobachten sein mögen, aber als Folie grundlegend Interaktions- und
Lernprozesse im Unterricht überaus wirkmächtig beeinflussen und auch nachhaltig behindern können. So kann beispielsweise das
zugewandte Hinterfragen negativer Selbstzuschreibungen oder ein Angebot zur gemeinsamen Betrachtung einseitig „gelöster“
Antinomien selbstreflexive Prozesse anstoßen, die neben den kategorialen Bestimmungen eine hohe Bedeutung bei der Unterrichtsberatung
erlangen können.
Insbesondere im Schwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung ist es wichtig, Reinszenierungen früher prägender
Beziehungserfahrungen im Unterricht erkennen und möglichst verstehen zu können. Dazu bedarf es als Ausgangspunkt für eine
Analyse von Übertragungs- und Gegenübertragungsprozessen einer Beobachtungshaltung, die Freud mit dem Begriff der
„gleichschwebenden Aufmerksamkeit“ gefasst hat. Letztlich ein willentlicher Verzicht auf eine Fokussierung vorheriger Ideen,
damit nicht nur das vorgefunden wird, was man bereits weiß. Einer Aufmerksamkeit also auch für scheinbar Nebensächliches. Im
ersten Schritt geht es damit um eine Verwicklung in das Geschehen um sich dann im zweiten Schritt in professioneller Weise zu distanzieren
und über Hypothesenbildung zu einem tieferen Verständnis zu gelangen. Dieser Zweischritt von Verwicklung und Distanzierung, kann
durch das „Szenische Verstehen“ (Rauh 2010, 2022; Heinemann 2003; Baumann 2021) erschlossen und für den pädagogischen
Prozess fruchtbar gemacht werden. Diese Grundannahmen finden auch ihren Niederschlag in Formen der Kollegialen Beratung und Supervision in
pädagogischen Kontexten. Deutlich wird: Eine dem Wunsch nach Handlungssicherheit entspringende frühzeitige Fixierung auf
Kategorien in der Beobachtungssituation kann Chancen der Beobachtung auch wirksam verhindern. Gerade das vermeintlich Nebensächliche
kann besondere Bedeutung erlangen und zentrale Zugänge zum Geschehen eröffnen.
Kategoriensysteme und Bausteine können somit „Erblindungseffekte“ für wesentliche Teilbereiche von Unterricht
hervorrufen. Kategorien und Items können außerordentlich hilfreich sein, es stellt sich aber die Frage nach dem Zeitpunkt des
Einsatzes im Beratungsprozess und auch die Bedeutung eines behutsam-reflektierten Umgang damit wird deutlich. In zeitlicher Hinsicht
spielen Bausteine in der dem Unterricht vorhergehenden Auseinandersetzung eine bedeutsame Rolle. Die Unterrichtsbeobachtung selbst verlangt
hingegen zunächst nach einer großen Offenheit der Wahrnehmung in einer möglichst unvoreingenommenen, rekonstruktiv dem
Einzelfall nachgehenden Beobachtungssituation. Die erfolgten Beobachtungen können danach wiederum anhand der Bausteine reflektiert und
mitunter auch kategorisiert werden. Einerseits mit dem Ziel, eine lernhemmende Überkomplexität der Rückmeldung
systematisiert zu reduzieren, aber eben auch, um blinde Flecken zu vermeiden.
Über die Frage nach dem Zeitpunkt des Einsatzes von Kategoriensystemen hinaus eröffnet sich die Frage danach, was jenseits der
Themenbausteine fachspezifische Grundlagen in der Ausbildung und Beratung sind, die sich im Unterricht niederschlagen. Diesbezüglich
sollen nachfolgend dem Unterrichten vorausgehende Auseinandersetzungen in den Blick genommen werden, die einen erheblichen Einfluss auf die
Frage nach gutem Unterricht haben. Dabei geht das vorliegende Verständnis weit über die schriftliche Planung der unmittelbar
bevorstehenden Stunde hinaus. Folgende Aspekte der Unterrichts- und Förderplanung haben eine besondere Relevanz in der Fachrichtung
ESENT am Standort Stuttgart und müssen bei der Frage nach „gutem Unterricht“ in den Blick genommen werden:
· Eine Auseinandersetzung mit den biografisch bedeutsamen Erfahrungen der SchülerInnen sowie deren
lebensweltlichen Bezügen in Form von schriftlichen Schülerbeschreibungen. Hierbei geht es vor allem um die
Entwicklung eines umfassenden Verständnisses für die Schülerschaft in ihren Lebenslagen und darum „die inneren
Notwendigkeiten in den Äußerungen psychosozial belasteter, auffälliger Kinder und Jugendlicher zu erkennen“
(Müller 2023 S.12). Welchen Blick haben wir auf unsere SchülerInnen und wie „denken wir ihnen nach“? Wie können
wir ihre subjektiven Bewältigungsstrategien in einem „lebensgeschichtlich orientierten, subjektbezogenen Zugang“ verstehen
(Theunissen 2006 S.311)? Dazu bedarf es der anamnestischen Sammlung und Beobachtung von Aspekten wie dem biografischen Lebensverlauf, der
Familiendynamik, den Erfahrungen im Jugendhilfesystem und in anderen Institutionen, der schulischen Vorerfahrungen, der Lernvoraussetzungen
(auch über das unterrichtsfachliche Verständnis hinaus) und psychiatrischer Beobachtungen. Aus der anamnestischen Sammlung und
den einfühlsamen Beobachtungen über die besonderen Stärken, Ressourcen und Vorlieben der jungen Menschen, können erste
Gedanken über deren Selbstkonzepte, innere bedeutsame Themen, Grundbedürfnisse und Motivlagen entwickelt werden. In einer
sorgsamen Person-Umfeld-Analyse erfahren auch die Peerbeziehungen besondere Beachtung. Auch hier können wiederholte beschämende
Erfahrungen bzw. die Versuche, solche zu vermeiden, tiefgreifende Auswirkungen haben. Dazu können exemplarische Interaktionsanalysen
erlebter schulischer Szenen einfließen. Ausgehend von derlei gründlichen Beobachtungen können dann Hypothesen generiert
werden, die im zeitlichen Verlauf verifiziert oder falsifiziert werden müssen, um daraufhin eine begründete pädagogische
Intervention anschließen zu können. Nicht zuletzt geht es dabei auch um eine professionelle Reflexion des Beziehungsgeschehens
zwischen SchülerIn und LehrerIn. Dies schließt anthropologische (Selbst-)Reflexionen der Lehrkraft sowie eine Kenntnis des
Ansatzes der Verstehenden Diagnostik mit ein (vgl. Kautter 2003; Theunissen 2006; Baumann et al. 2021).
· Eine methodisch-didaktische Unterrichts und Förderplanung, die sich auf Basis einer
gründlichen und respektvollen Auseinandersetzung mit den SchülerInnen in kreativer und konstruktiver Weise offen zeigt für
eigenständige und unkonventionelle Zugänge, ohne dabei Fragen der schulischen und beruflichen Anschlussfähigkeit aus dem
Auge zu verlieren. Eine Bereitschaft, die Orientierung an z.T. selbst in der Schülerrolle erlebten gängigen Beschulungsformen von
Regelschulen zu hinterfragen, pädagogische Freiheiten zum Wohl der Entwicklung der SchülerInnen zu nutzen und dafür neben
Bewährtem auch neue Herangehensweisen zu erproben. Dazu gehört selbstverständlich eine Unterrichtsplanung, die sich der
Intentionen ihrer methodischen wie didaktischen Überlegungen aber auch der vorhandenen (Schüler-)kompetenzen bewusst ist.
Einerseits bedarf es dazu einer Methodenkompetenz, andererseits darf dies aber nicht zu einer Methodenfixierung führen. Es muss
möglich bleiben, unkonventionell denken zu können und dafür die konkrete Klassensituation oder einzelne SchülerInnen
zum Ausgangspunkt zu nehmen. Das eröffnet Räume für spezifische und innovative didaktische Ansätze und Wege.
· Antizipierende Alternativplanung für den Unterricht - ein Antizipieren von potentiellen
Herausforderungen, Stolperstellen und auch besonderen Chancen im Unterrichtsverlauf auf Basis der Analyse vorhergehender Erfahrungen aber
auch auf Grundlage einer vertieften Auseinandersetzung mit den Erfahrungswelten jedes einzelnen Schülers bzw. jeder einzelnen
Schülerin. Neben der potentiellen Zunahme von Handlungssicherheit erhöht sich damit die Chance, in kritischen Situationen eher
konstruktive Unterstützung leisten zu können.
· Sachanalyse – eine gründliche Durchdringung der sachlichen Dimensionen des
Lerngegenstandes sowie des fachdidaktisch relevanten Wissens ermöglicht größtmögliche Flexibilität der Lehrkraft,
um mit dem komplexen Unterrichtsgeschehen professionell umgehen zu können. Außerdem bildet eine tiefe Verankerung in der Sache an
sich die Grundlage für das Erkennen von besonderen Chancen und auch Tücken der Inhalte für einzelne SchülerInnen.
· Bedeutungsanalyse – Auf Basis einer fundierten Sachanalyse kann dann nach der Bedeutung
des Lerngegenstandes für die SchülerInnen gefragt werden (vgl. Neidhardt 1985 S.98ff). „Nur durch intensive Beobachtung,
Reflexion und Interpretation können die Lehrkräfte die für die Schülerinnen und Schüler bedeutsamen Themen
herausarbeiten. Diese werden bei der Auswahl der Unterrichtsthemen, -inhalte und -formen berücksichtigt“ (Ministerium für
Kultus, Jugend und Sport: Bildungsplan Schule für Erziehungshilfe 2010, S.14). Orientierungsfragen für die Unterrichtsplanung
müssen demzufolge sein: Inwiefern geht die Unterrichtsplanung von den inneren Themen, Interessen, Fragen, aktuellen Herausforderungen
und Problemfeldern der SchülerInnen aus? Wird bei der Unterrichtsplanung reflektiert, welche Themenfelder in affektiver Hinsicht
angerissen werden und was die Unterrichtsthemen bei den einzelnen SchülerInnen emotional auslösen könnten? Welche
Bedeutungen kann der Unterrichtsstoff für die am Unterricht Beteiligten erlangen und welchen Sinn könnte er durch die
Lehrkraft und durch jeden einzelnen Schüler zugeschrieben bekommen (vgl. Baur W., Bleher W., Hoanzl M. Stand: 2017 S.3+4)? Welche
Chancen birgt der Unterrichtsgegenstand auch neben der rein unterrichtsfachlichen Ebene im Blick auf „biografische
Klärungsprozesse“ (Kastl 2010) und auf neue Deutungsmöglichkeiten für die Interpretation von Lebenserfahrungen? Es
bedarf dazu bisweilen der Beiläufigkeit indirekten Kommunizierens (Kierkegaard 2005) oder eines “Lernens auf
Nebenwegen“(Hoanzl 2017), um Lern- und Entwicklungsprozesse zu ermöglichen bzw. Teilhabeprozesse anzustoßen.
· Intentionen - Wir können Lernen „nicht machen“ und ebenso wenig garantieren,
was das Gegenüber aus den Lernangeboten macht. „Ein Schüler der grinst, grinst. Ein Schüler der rechnet, rechnet. Man
kann durch Lob oder Tadel darauf reagieren, aber es gibt keine Möglichkeit, die Bewusstseinsverläufe, die sich daraufhin ergeben,
durch Kommunikation zu spezifizieren. Überdies handelt es sich nicht um Trivialmaschinen, die nach der immer gleichen
Transformationsfunktion reagieren“ (Luhmann 2006 S.21). Was Schülerinnen mit unseren Angeboten machen, bleibt zunächst
ihnen überlassen. Das Angebot kann ignoriert, verweigert, verdreht, hingenommen, angenommen, damit umgegangen, hinterfragt werden etc.
Wir stellen letztlich „Möglichkeitsbedingungen“ bereit (Mollenhauer). Diese Bedingungen sind jedoch sehr bewusst
ausgerichtet und unterliegen einer Intention. Fehlen Ziel oder Intention, so geht potentiell Struktur und Sinnverständnis des
Unterrichts für SchülerInnen und auch für die LehrerInnen selbst verloren. Insofern ist ein klarer Fokus auf zentrale
unterrichtsfachliche Inhalte wichtig, die von den SchülerInnen verstanden werden sollen (vgl. IBBW Unterrichtsfeedbackbogen 2022 Item
1.1) Es bedarf einer sorgsamen Auswahl möglicher Ziele und einer Entscheidung für oder gegen spezifische Aspekte. Andernfalls
verschwimmen didaktische sowie methodische Entscheidungsgrundlagen und Unsicherheiten auf Seiten von Lehrenden wie Lernenden werden
gesteigert. Die individuellen Intentionen für jede SchülerIn haben ihren Bezugspunkt in den Schülerbeschreibungen und der
Bedeutungsanalyse und können von da hergeleitet und gegründet werden.
Gleichwohl ist es allerdings von großer Bedeutung, dass Lernende im Unterricht stets die Chance und Freiheit haben, Themenbereiche,
die sie beschäftigen, zum Gegenstand des Nachdenkens zu erheben. Lehrende müssen dabei eine Sensibilität vorweisen, diese
Momente zu erkennen und ihnen ggf. zur Entfaltung zu verhelfen, was damit jedoch nicht zwingend heißt, dass dies immer unmittelbar im
Moment der Artikulation eines Bedürfnisses geschehen muss. Auch dann, wenn die Zielsetzung der ursprünglichen Unterrichtsplanung
zunächst in eine andere Richtung weisen mag, kann es für SchülerInnen überaus bedeutsam sein, andere Themen zu
platzieren und diesen interessiert nachzugehen. Gerade in derlei Momenten finden häufig in besonders intensiver Weise Lernprozesse
statt. Damit soll nicht einer Beliebigkeit von Intentionen im Unterricht Tor und Tür geöffnet werden, sondern der Vielgestalt von
Themenkomplexen und Akzentuierungen im kommunikativen Prozess Rechnung getragen werden. Es geht um das interessierte Erkennen und
Aufgreifen von unplanbaren aber bedeutsamen „Leerstellen“ (M. Blohm), sowie darum, diese dialogisch in einen fruchtbares
(Lern)geschehen zu überführen, anstatt rigide den Planungsschritten zu folgen.
Die Auseinandersetzung zur Frage guten Unterrichts beinhaltet in zentraler Weise die Anforderung, sich in Spannungsfeldern und
Antinomien zu bewegen und zu verorten. Sei es zwischen institutioneller Vorgabe und pädagogischer Freiheit, zwischen Nähe und
Distanz, zwischen Rekonstruktion und Subsumtion, zwischen Heteronomie und Autonomie, zwischen Handlungsdruck
undBegründungsverpflichtung etc. (vgl. Helsper 1996; 2002; Oevermann 2002). Daneben sei auch auf Spannungsfelder verwiesen, die als
spezifisch für den Vorbereitungsdienst angesehen werden können, wie z.B. das Schon-und-noch-Nicht des Lehrerseins oder aber auch
Gratwanderungen zwischen den eigenen Positionen und den Überzeugungen sowie Erwartungen
vonMentorInnen/SchulleiterInnen/AusbilderInnen. Dementsprechend geht es in Aus- und Fortbildung nicht zuletzt auch darum, konstitutive
Antinomien in der Pädagogik zu thematisieren und eine reflexive Auseinandersetzung anzuregen. Um derlei Themenfelder zu erkennen und
Menschen in diesen anspruchsvollen Anforderungen zu begleiten, bedarf es einer genauen und sensiblen Beobachtung, die individuelle
Erfahrungen von SchülerInnen und LehrerInnen berücksichtigt. Professionalisierung bedeutet auf Seite der Auszubildenden, auf
Basis einer Kenntnis und eines Erkennens von Spannungsfeldern, mithilfe selbstreflexiver Prozesse auf einem Weg zu sein, um authentische
Balance und seinen Stil zu finden.
Auch über den Zusammenhang mit Spannungsfeldern hinaus ist die Entwicklung selbstreflexiver Fähigkeiten von Bedeutung, um sich
selbst und seiner Motive bewusst zu werden und um den Unterricht und die Beteiligung aller Interaktionspartner besser verstehen und
begründete Rückschlüsse ziehen zu können. Es bedarf dazu der Fähigkeit, sich in Distanz zu sich selbst zu
versetzen und andere Perspektiven einzunehmen. Voraussetzung sind Begleiter, die ausreichend Sicherheit geben können, um sich auf
Prozesse mit anderen Menschen, Institutionen und sich selbst einlassen zu können, die aber auch imstande sind, in konstruktiver Weise
zu hinterfragen. So kann die Wahrnehmung, Analyse und Interpretation komplexer sozialer Situationen erlernt und differenzierteres
Wahrnehmen eingeübt werden, um sich und andere in beruflichen Situationen besser zu verstehen. Dabei können auch in Anbetracht
komplexer UnterrichtssituationenHandlungsspielräume entwickelt, Stärken ausgebaut, Herausforderungen überwunden, Neues
erprobt und so die Qualität des Lehrens und Lernens verbessert werden.
Für die Beratung ist dabei ein Arbeitsbündnis essentiell, das auf Vertrauen basiert und in dem klar ist, dass trotz des
Bewertungshorizonts, der das Verhältnis störanfällig macht, das respektvolle Anerkennen und ein aufrichtiges Interesse an
den Prozessen der zu beratenden Personen im Mittelpunkt stehen. Dabei hat das Zusammenspiel verschiedener Perspektiven aller Beteiligter
eine hohe Relevanz (vgl. Köller et al. 2024 S.14). Grundlage muss eine ermutigende Lernkultur sein, in der Gelungenes oder auch
schlicht Interessantes authentisch gewürdigt wird, in der Fehler gemacht werden dürfen, aber auch Entwicklungsfelder
eröffnet werden. In der Unterrichtsberatung geht es entsprechend um ein gemeinsames Interessieren für die erlebten und
beobachteten Unterrichtsprozesse, um daraus zu lernen und nicht um das Aufspüren von Defiziten. Es geht um gemeinsame Deutungsversuche
und ggf. Alternativensuche, die von der Expertise und der Perspektive der am Prozess beteiligten Personen lebt und Weiterentwicklungen
konstruktiv-ermutigend anzustoßen vermag. Unterrichtsprozesse entfalten ihren Sinn im zeitlichen Fortgang und in der Interaktion aller
Teilnehmenden. Bei aller Bedeutsamkeit der Planung ist das Unterrichtsgeschehen letztlich nur prozesshaft-sequentiell zu verstehen. Erst in
der Interaktion des Unterrichts wird Sinn und Bedeutung ausgehandelt und konstituiert. Im reflexiven Dialog nach der Unterrichtsstunde
werden manche Impulse und Reaktionen durch die Erklärungen und Sinnzuschreibungender am Nachgespräch beteiligten Personen
schlüssig interpretierbar. Folglich muss Unterricht, Unterrichtsanalyse und Unterrichtsberatung auch in der unmittelbaren Logik dieser
Verkettungen und situativen Erfordernisse verstanden werden.
Aichhorn, August (1951): Verwahrloste Jugend. Die Psychoanalyse in der Fürsorgeerziehung; zehn Vorträge zur ersten Einführung. 3., erw. Aufl. Bern: Huber
Baumann, Menno; Bolz, Tijs; Albers, Viviane (2021): Verstehende Diagnostik in der Pädagogik. Verstörenden Verhaltensweisen begegnen. Weinheim und Basel: Beltz
Baur W., Bleher W., Hoanzl M. (2017): Schulpraxispapier – Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung.
Heinemann, Evelyn (2003): Jürgen – Szenisches Verstehen und fördernder Dialog im Unterricht. In: E. Heinemann, U. Rauchfleisch, T. Grüttner (Hrsg.): Gewalttätige Kinder. Psychoanalyse und Pädagogik in Schule, Heim und Therapie. Düsseldorf: Walter. S.70-89
Helsper, Werner (1996): Antinomien des Lehrerhandelns in modernisierten pädagogischen Kulturen. Paradoxe Verwendungsweisen von Autonomie und Selbstverantwortlichkeit. In: Arno Combe und Werner Helsper (Hrsg.): Pädagogische Professionalität. Untersuchungen zum Typus pädagogischen Handelns. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S.521-569
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Hoanzl, Martina (2017): Bedrohtes Zuhause und der Verlust von Heimat: existenzielle (Lebens-)Themen auf Nebenwegen im Unterricht. In: Bleher, Werner & Gingelmaier, Stephan (2017): Kinder und Jugendliche nach der Flucht: Notwendige Bildungs- und Bewältigungsangebote. Weinheim: Beltz. S. 40-64
IBBW (2022): Unterrichtsfeedbackbogen Tiefenstrukturen. Im Internet: https://ibbw-bw.de/unterrichtsfeedbackbogen_tiefenstrukturen (17.07.2024)
Kastl, Jörg Michael (2010): Inklusion und Exklusion im Lebenslauf – zum Problem der,uneingelösten Professionalisierung von Behindertenhilfe und Sozialpsychiatrie. Im Internet: https://www.ph-ludwigsburg.de/fileadmin/phlb/hochschule/fakultaet3/allgemeine-sonderpaedagogik/soziologie/Download_Dateien/Kastl_2010_Inklusion_und_Exklusion_im_Lebenslauf.pdf (11.05.22)
Kautter, Hansjörg (2003): Das Thema des Kindes erkennen. Umrisse einer verstehenden pädagogischen Diagnostik. In: Eberwein, H./Knauer, S. (Hrsg.). Lernprozesse verstehen – Wege einer neuen (sonder-) pädagogischen Diagnostik). Weinheim 2003. S.81-93
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Kleinbach, Karlheinz (1998): Versuch über die Gastlichkeit. Anmerkungen zum erzieherischen Verhältnis. In: Lernen konkret 17 (2), S. 9–17.
Köller, M., Wollenschläger M., Paulik J., Lang F. (2024): Wirksame Feedbackgespräche?! Fünf Impulse zur Vorbereitung und Durchführung. Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung (ZSL), Baden-Württemberg.
Luhmann, Niklas (2006): Das Kind als Medium der Erziehung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp
Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg (2010): Bildungsplan Schule für Erziehungshilfe
Müller, Thomas (2023): Kinder und Jugendliche in Bedrängnis – Von der Belastung zur Beziehung. Skript zum Vortrag in Bad Sassendorf 2023
Neidhardt, W. (1985): Psychoanalytische Didaktik? In: Günther Bittner und Christoph Ertle (Hrsg.): Pädagogik und Psychoanalyse. Beiträge zur Geschichte, Theorie und Praxis einer interdisziplinären Kooperation. Würzburg: Königshausen und Neumann, S.96-116
Oevermann, Ulrich (2002): Professionalisierungsbedürftigkeit und Professionalisiertheit pädagogischen Handelns. In: M. Kraul, W. Marotzki u. C. Schweppe (Hrsg.): Biografie und Profession. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. S.19-63
Rauh, B. (2022). Szenisches Verstehen – die Kultivierung einer alltäglichen Kompetenz zur psychoanalytischen Methode. In M. Günther, J. Heilmann & A. Kerschgens (Hrsg.): Psychoanalytische Pädagogik und Soziale Arbeit. Verstehensorientierte Beziehungsarbeit als Voraussetzung für professionelles Handeln (S. 211-230). Gießen: Psychosozial.
Rauh, B. (2010). Szenisches Verstehen. In: B. Ahrbeck, M. Willmann (Hrsg.). Pädagogik bei Verhaltensstörungen. Ein Handbuch. Stuttgart: Kohlhammer. S.173-181
Theunissen, Georg (2006): Verstehende Diagnostik. In: Wüllenweber E. (Hrsg.): Pädagogik bei geistigen Behinderungen. Ein Handbuch für Studium und Praxis. Stuttgart: Kohlhammer. S.311-319